aussichten: Klemmende Schubladen
             
             
   
  
     
         
             
      KLEMMENDE SCHUBLADEN      
             
 
 
Auch nach Jahren ist es immer wieder erstaunlich, dass Menschen ähnlicher Prägung aus den gleichen Erfahrungen eine völlig unterschiedliche Sicht der Welt ableiten. Wer viel fliegt, regelmäßig in anderen Ländern ein Stück Alltag miterlebt, von dem wird ein besonders weiter Horizont erwartet. Und zu meiner Freude kenne ich zahlreiche Kolleginnen und Kollegen, die abenteuerliche, ausgefallene Reisen machen, Freundschaften über Kontinente hinweg pflegen und Koffer voller Kleidung in indischen Waisenheimen abgeben. Oder einfach nur versuchen, ihren eigenen Kindern ein Gefühl für die Vielfältigkeit der Welt zu vermitteln.

Leider ist es aber auch so, dass die Fülle der Möglichkeiten und Eindrücke bei manchem auch das Gegenteil erzeugt: Unbehagen, Misstrauen und das Bedürfnis nach mehr Überschaubarkeit. Kollege B. etwa, ein durchaus gemütlicher Mensch, warnte mich auf unserem ersten gemeinsamen Fernostflug: „Die wollen dich nur betrügen, alle. Da musst du ständig aufpassen. Alles nur Lügner und Betrüger.“

 

     
     

Markt im Hochland von Ecuador

 

     
     

Damit meinte er ausgerechnet die freundlichen Thai, bei denen das gegebene Wort wie ein Vertrag gilt. Was manchem Versicherungskaufmann oder Vermögensberater in unseren gemäßigten Breiten völlig verrückt erscheinen mag. Fehlt beim Einkauf an einem Stand das passende Wechselgeld, so wird es ohne weitere Umstände von geholt, egal wie klein die Münze ist und wie lange es dauern mag. Hätte es einen Unterschied gemacht, B. von meinem Ausflug zum unübersehbaren Chatuchak Markt zu erzählen? Wo mir ein gutgelaunter Thai mir zwei auf realistische 180 Baht heruntergehandelte T-Shirts schließlich mit einem Lächeln für 160 Baht überließ? Großzügigkeit ist eine Haltung, keine Frage von Reichtum.

Eine Flugbegleiterin wollte einst von P. wissen, ob er sich im Palästinenserstaat je einen dauerhaften Waffenstillstand vorstellen könne. Mein höflicher, eher stiller Kollege entgegnete mit entspannter Gewissheit: „Die wollen nicht in Frieden leben. Sobald ein bisschen Ruhe einkehrt und etwas aufgebaut wird, reißen sie es doch gleich wieder ein.“

Es mag die Fülle und Verschiedenheit der Eindrücke sein, die nicht immer ein vielschichtiges und differenziertes Bild der Welt fördert: Sondern auch das Bedürfnis, alles sauber in wenige Schubladen zu verpacken.

„Du fährst sicher einen VW“, sagte Kollege K. einmal wohlwollend mitleidig lächelnd zu mir, und dass er da irrte – das brachte ihn in keiner Weise in Verlegenheit. Unverzüglich fand er eine neue Schublade. Und für diese eine stimmige, quasi-genetische Erklärung.

Aber irgendwie scheine ich K., diesem ausgesprochen angenehmen Mitmenschen, trotzdem Kopfzerbrechen zu bereiten. Wenn wir gemeinsam fliegen, dann sieht er mich gelegentlich mit leicht gerunzelter Stirn und vagem Kopfschütteln an. Mir scheint, dass ich in keine seiner Schubladen so richtig hineinpasse. Mitunter provoziert er mich auf eine gutmütige Weise; vielleicht der Versuch, mich doch noch in ein Fach seines Ordnungssystems pressen.

Schade, dass es manchen Menschen so schwer fällt, die Herausforderung anzunehmen, die eine vielgestaltige Welt an unser Urteilsvermögen, unsere Bescheidenheit und unser Mitgefühl stellt. Und schön, dass diese Welt bei allen Schwierigkeiten und Problemen geprägt ist von Individualität wie auch von unzähligen Gemeinsamkeiten und Verbindungen. Vielleicht sollten uns diese wichtiger sein als das grobe Raster bequemer Kategorien.

 

     
     

Monsunregen in Bangkok